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Frankfurter Rundschau - Die EU setzt alle Hoffnungen auf den Export - und droht damit zu scheitern
Von Stephan Börnecke

Phil Hogan mimt den Genscher. Nach Kolumbien und Mexiko ist der EU-Agrarkommissar im Februar geflogen, nach Japan und China ging's im April, später im Jahr sind noch Vietnam und Indonesien an der Reihe. Exportoffensive nennt Hogan sein Reiseprogramm, und wo immer er auftaucht, hat er jede Menge Vertreter von europäischen Fleisch- und Milchkonzernen in seiner Entourage. Hogans Ziel: Die Welt mit Milchprodukten, Schweinefleisch, Obst und Gemüse sowie Alkohol und Wein aus europäischer Erzeugung zu beglücken.

Während Phil Hogan auf Weltreise ging, kommentierte eine Bloggerin im Fachblatt "Topagrar" verbittert: Der unternehmungslustige Ire und "seine Politik des Aussitzens zwingt Milchbetriebe in ganz Europa zum Aufgeben". Man dürfe gespannt sein, ob es den Kolumbianern möglich sei, Milch aus Übersee zu kaufen, wenn die zu reellen Preisen angeboten würde.

Wie wahr. Denn tatsächlich können deutsche und europäische Bauern sich nur deshalb auf dem Weltmarkt tummeln, weil ihre Höfe mittels Direktzahlungen der EU subventioniert werden. Zwar gibt es für Milchprodukte keine Exportsubventionen mehr. Aber die "Agrarbeihilfen" der EU machen rund ein Drittel des Einkommens eines Landwirts aus. Derart abgesichert lässt sich dann eben auch Milch nach Kolumbien verkaufen.

Ist, nicht nur vor diesem Hintergrund, die Exportorientierung der deutschen und europäischen Agrarwirtschaft überhaupt sinnvoll? Mit Kolumbien hatte die EU 2012 ein Freihandelsabkommen unterzeichnet. Es hatte zur Folge, dass die nun möglichen billigen Milchimporte die örtlichen Bauern unter Druck setzen. Ihre Kühe geben am Tag weniger als ein Viertel der Milch, die eine europäische Kuh liefert. Ohne Subventionen sind sie gegen das weiße Gold aus Übersee nicht konkurrenzfähig. Freilich: Es sind nur wenige Zehntausend Tonnen, die jedes Jahr aus Deutschland nach Kolumbien fließen.

Die wirklichen Auswirkungen der europäischen Exportpolitik spüren vor allem die Kleinbauern Afrikas: Ob Nigeria, Mali oder Kamerun - dorthin fließt europäisches, hierzulande nicht absetzbares Milchpulver, das, angereichert mit Pflanzenfetten, eine billige Alternative zur Frischmilch für Nigerianer mit wenig Geld darstellt. Zum Nachteil der afrikanischen Landwirte, die mit ihren Produkten das Nachsehen haben. Europäische Konzerne wie Arla oder Danone investieren in afrikanische Produktionsstätten, um dort Milch oder Joghurt zu erzeugen - selbstverständlich mit Rohstoffen aus Europa.

Auch deutsche Molkereien haben in den vergangenen Jahren kräftig investiert, um auf dem internationalen Pulvermarkt mitmischen zu können und die Überproduktion auf dem Weltmarkt zu verhökern: Das Deutsche Milchkontor DMK, die Nummer eins auf dem hiesigen Markt und zugleich einer der Trendsetter bei Billigpreisen für Bauern, steckte 70 Millionen Euro in die Verdoppelung der Milchpulvererzeugung. Die Molkerei Ammerland hat sogar ein eigenes Vertriebsbüro in Peking, um ihre Exportchancen in China zu erhöhen. In einem Bericht der Organisation Germanwatch erklären die Autoren Tobias Reichert und Johannes Leimbach, weshalb die deutschen Molkereien Millionen in die Erzeugung von Magermilchpulver stecken: Sie folgen der "Strategie, Exportmärkte vor allem für standardisierte Massenprodukte zu erobern". Doch um mit Milch konkurrenzfähig sein zu können, "müssen die Preise für ihren Rohstoff Milch dauerhaft auf einem international wettbewerbsfähigen, also niedrigen Niveau liegen".

So entpuppt sich sogar Export-käse oft als billiges Massenprodukt und nicht als hochwertig, wie das die Industrie Glauben machen will. Davon ist der Agrarwissenschaftler Onno Poppinga überzeugt. Er zeigte in einer Studie, dass nur 35 Prozent des ausgeführten Käses als hochwertig einzustufen sei - überwiegend handle es sich zum Beispiel um billigen Schmelzkäse. Masse aber wird mit Abstrichen beim Umwelt- und Tierschutz erzeugt, wie Martin Häusling, Europaabgeordneter der Grünen, meint: "Wir bräuchten eine Neuausrichtung der Erzeugung, die auf den europäischen Markt zielt und die auf Qualitätsproduktion und Tiergerechtigkeit setzt. Wir müssen weg von einem System, das austauschbare Massenprodukte erzeugt, die dann im Schlussverkauf nach Übersee verschifft werden!"

Hierzulande, und das hat zunächst nichts mit der Aufhebung der Milchquote vor einem Jahr zu tun, produzieren die Bauern weit mehr Milch, als im Inland verbraucht werden kann. Auf 117 Prozent ist der Selbstversorgungsgrad gestiegen, EU-weit liegt er bei 115 Prozent.

Weil die Milch überschwappt, lagert die EU ganz wie zu Zeiten der Butterberge in den 1970er Jahren Überflüssiges ein. Derzeit hat die EU 230 000 Tonnen Magermilchpulver gebunkert, weil der Markt sie nicht aufnehmen kann, allein 57 000 Tonnen lagern in Deutschland. Der große Rest, von dem die EU (Jahresproduktion: rund 160 Millionen Tonnen) immerhin etwa 1,6 Millionen Tonnen Milch allein nach Ostasien exportiert, ergießt sich auf den Weltmarkt. Dort erzielt die deutsche Molkereiindustrie knapp 17 Prozent ihres Umsatzes, aber damit ist auch der Preis der Milch zu "80 Prozent" vom Weltmarkt abhängig, wie Björn Börgermann, Sprecher des Milchindustrieverbands MIV, schätzt.

In der Tat, bestätigt der Milchindustrieverband, haben sich Weltmarktpreis und Inlandspreis auf dürftige 25 Cent je Liter angenähert. Zu wenig für die meisten deutschen Bauern, aber ein gutes Geschäft für Milcherzeuger aus Neuseeland, wo das angenehme Klima den Verzicht auf teure Stallbauten möglich macht und die Erzeugung deshalb erheblich billiger ist. Die europäischen Bauern, sagt Grünen-Europaabgeordneter Martin Häusling, "wurden bewusst in die falsche Richtung geführt, weil man von wachsenden Märkten ausging. Niemand rechnete damit, dass auch andere Länder wie USA und Neuseeland die Produktion ankurbeln würden". Neuseeland kann aufgrund der dortigen Bedingungen vorübergehend auch mit 15 Cent pro Liter leben, die USA haben ein spezielles Stützungssystem, arbeiten auf wesentlich größeren, kosteneffizienteren Höfen: "Es ging erstaunlich lange gut", dass die europäischen Molkereien angesichts dieser Konkurrenz überhaupt auf dem Weltmarkt handeln konnten, sagt Häusling.

2015 aber stockte der weltweite Absatz europäischer Milch. Kein Wunder, denn die Bauern haben im Jahr nach dem Ende der Quote 6,1 Millionen Tonnen mehr Milch gemolken, und das bei einem stagnierenden bis leicht rückläufigen Binnenmarkt, trotz Russland-Embargo und trotz schwächelnder Konjunktur in China. Auch bei dieser Ausgangslage setzen deutsche Landwirtschaftsindustrie und Politik weiter auf den Export. MIV-Sprecher Björn Börgermann sagt: "Ohne Export geht es nicht", und er hofft auf eine international wieder anziehende Nachfrage.

Doch die Bestimmer auf dem Weltmarkt sind nicht die EU-Bauern, obwohl sie Platz zwei der Exportnationen belegen. Marktführer ist das ungleich kleinere Neuseeland. Dort gibt die Durchschnittskuh zwar nur wenig mehr als die Hälfte der Milch, die ein deutscher Bauer melken kann. Aber die Milch von Down Under ist eben wegen der besonderen Bedingungen, die kaum den Einsatz von teurem Kraftfutter erfordern, vergleichsweise kostengünstig erzeugt. Wie erfolgreich die neuseeländischen Marktführer sind, zeigt die jüngste Bilanz des Molkereiriesen Fonterra: Die Genossenschaft, die für 90 Prozent der Produktion steht, hat mitten in der weltweiten Milchkrise ihren Gewinn verdoppelt.

Neuseeland betreibt eine expansive Exportpolitik. Heute werden 95 Prozent der Milcherzeugnisse ausgeführt. Das Land, obwohl nach erzeugter Menge nur auf Platz acht im internationalen Ranking, ist der größte Milchexporteur weltweit. Wer also auf dem Weltmarkt reüssieren will, der "muss den Platzhirsch angreifen", schrieb "Topagrar" im Februar. Denn nach dem Zusammenbruch des Russland-Marktes und angesichts der stark schwankenden Nachfrage aus Nordafrika und dem Nahen Osten müssen neue Absatzmärkte her. Einer dieser Märkte heißt China. Doch dort haben die Neuseeländer Heimvorteil.

Bundeslandwirtschaftsminister Christian Schmidt (CSU) hält dagegen, hat inzwischen sogar eine Stabsstelle Export eingerichtet und das Budget für Exportförderung für Agrarprodukte um zwei auf 7,3 Millionen Euro aufgestockt. Doch braucht die Welt deutsche Milch? Organisationen wie Germanwatch fürchten, dass die europäische Milchindustrie vor allem Nord- und Westafrika in Zukunft noch stärker als "Reservemarkt" für den instabilen ostasiatischen Markt nutzen werden. So verweist "Topagrar" darauf, dass China "sehr viel Wert auf hohe Selbsversorgerraten" lege und es somit "offen bleibt", ob der Boom der Jahre 2008 bis 2014 sich fortsetzt, als die Milchimporte Chinas um 500 Prozent wuchsen.

China hatten die Europäer schon früher als Markt entdeckt, deutsche H-Milch hat dort sogar einen guten Ruf. Allerdings sind die Mengen, um die es geht, trotz steigender Tendenz eher bescheiden. Von den mehr als 30 Millionen Tonnen Milch, die deutsche Bauern im Jahr melken, gingen 2015 gerade 209 000 Tonnen als H-Milch, knapp 25 000 Tonnen als Molke und weitere 15 000 Tonnen als Magermilchpulver nach Peking. Das ist nicht einmal ein Prozent der hiesigen Produktion.

Zudem schläft die Konkurrenz in Down Under nicht, und ob der von der hiesigen Industrie immer wieder beschworene Markt auf Dauer ein stabiler Abnehmer ist, bleibt fraglich. So ist das Land der Mitte seit längerem dabei, die eigene Milchproduktion zu stabilisieren und zu erweitern. Zugleich tritt China selbst als Exporteur auf. So berichtet die neuseeländische Zeitung The Northern Advocate, dass das chinesische Unternehmen Zhongding Dairy Farming zusammen mit dem russischen Unternehmen Severny der Welt größte Farm aufbaut.

Auf chinesischem Grund sollen 60 000 Kühe gemolken und die Milch verarbeitet werden, der Fachdienst Agrarheute.com spricht sogar von 100 000 Kühen. Genug, um 800 Millionen Liter im Jahr zu erzeugen. Motiv für das Projekt: die durch das Russland-Embargo entstandene Lieferlücke zu füllen. Das Futter kommt von 100 000 Hektar Agrarfläche in Russland, weitere 200 000 Hektar sind im Gespräch. Mansel Raymond, Chef des europäischen Bauerndachverbands Copa-Cogeca, kommentiert Embargo und das China-Russland-Unternehmen als ein "besorgniserregendes Signal für die europäischen Milchbauern". Denn sowohl China als auch Russland versuchen, sich vom Import unabhängiger zu machen, die Inlandproduktion zu stärken oder im Ausland Land zu okkupieren, um den heimischen Markt zu beliefern und werden damit als Absatzventil unsicher. China kauft dafür Farmen in Neuseeland oder Australien auf.

Hinzu kommt: In Australien steht derzeit der Kauf einer Megafarm mit 180 000 Stück Vieh an ein chinesisches Unternehmen zur Genehmigung an. Australien baut überdies eine Frischmilch-Produktion auf und fliegt gleichzeitig frische, also nur pasteurisierte, nicht aber ultrahocherhitzte Milch (wie aus der EU) nach China. Die Preise freilich sind happig: Der Liter kostet zwischen fünf und sechs Euro.

"Europas Bauern wurden in die falsche Richtung geführt, weil man von wachsenden Märkten ausging."

"Molkereien folgen der Strategie, Exportmärkte für standar- disierte Massenprodukte zu erobern."

Neuseelands Kühe geben im Schnitt nur gut die Hälfte der Milch wie europäische Kühe. Trotzdem kommen die Bauern dort mit einem geringeren Milchpreis über die Runden. Rtr